
Einige Aspekte moderner Sexualtherapie
Klassische Sexualtherapie hatte vor allem die sexuelle Funktionalität (Erektion, Lubrikation, Orgasmus) im Blick.
Neuere Konzepte legen mehr Wert auf
- das eigene sexuelle Sein/ Profil: Wer bin ich als sexuelle Person?
- die Bedeutung von Beziehungsgestaltung und -qualitäten,
- einen grundlegenden Prozess, der eine umfassende Intimität auf Paarebene ermöglicht.
Im Folgenden stelle ich Ihnen zunächst in zugespitzter Kurzform die Entwicklungen in der modernen Sexualtherapie dar. Anschließend erläutere ich ein modernes Konzept zur Verbindung von lebendiger Erotik und umfassender Intimität. In einem dritten Teil stelle ich sexuelle und erotische Sprache einander gegenüber.
So bekommen Sie einen ersten Eindruck von den Hintergründen meiner sexualtherapeutischen Arbeit. Ein eher klassisches Vorgehen ist allerdings auch jederzeit möglich.
Schauen Sie gerne neugierig:
- Wo finden Sie sich – als die Person, die Sie heute sind – bei diesen Ausführungen am ehesten wieder?
- Was spricht Sie besonders an?
- Geht es Ihnen eher um klassische oder neuere Aspekte der Sexualtherapie?
- Bei den neueren: Was interessiert Sie besonders?
- Mit welchem Ziel?

1. Entwicklungen in der modernen Sexualtherapie
A. Paarbeziehung und Sexualität
Paartherapie und Sexualtherapie werden heute meist als zwei eigenständige und zugleich verbundene Regulationssysteme gesehen: Die Paar- und Sexualdynamiken ergänzen sich und können genau darin eine vitale Innigkeit für das Paar ermöglichen.
- Paar-Dynamik: Regulation von Liebe, Bindung, Berechenbarkeit, Sicherheit, emotionale Heimat
- Sexualitäts-Dynamik: Metapher der Lebendigkeit: Abenteuer, Geheimnis, Spiel, Spontaneität, Risiko, Erkundung
Beachten Sie: sichere bzw. unsichere Bindung in der Kindheit kann Intimitätserleben erleichtern/ erschweren.
B. Paradigmenwechsel in der Sexualwissenschaft
+ Von der Quantität zur Qualität und von der Funktionalität zum Begehren
Authentizität ist der neue Wert gegenüber Funktionieren: Wer bin ich als sexuelle Person?
+ Vom sexuellen Handeln zum sexuellen Sein
Alte Themen: Lust, Leidenschaft, Erregung, Erektion, Orgasmus –> sexuelles Handeln / Tun
Neue Themen: Wer bin ich als sexuelle Person? Was ich für mich „sex worth wanting“ (Sex, der gut genug ist, gewollt zu werden)? –> sexuelles Sein / Präsenz
+ Vom Trieb- zum Ressourcenmodell der Sexualität
Trieb-Modell: Reiz-Druck muss abgeführt werden, sonst entstehen Symptome
– Sexualität ist ein Muss und hat etwas Getriebenes
– gesellschaftliches Konzept: Sexualität ist etwas sozial Unterdrücktes (normative Moral von oben)
– inhaltlich bestimmt
–> Sexualität als Spannung und Entladung. Orgasmus als Höhepunkt validiert ordentlichen Sex.
Ressourcen-Modell: Steuerungsautonomie und Selbstverantwortung des Menschen
– Sexualität ist Option, etwas Wählbares, Gestaltbares
– gesell. Konzept: Sexualität ist Verhandlungssache zwischen zwei Personen
– prozesshaft bestimmt
–> Sexualität als spielerischer Selbstausdruck. Individuum und Paar sind Gestalter ihrer Sexualität. Erotik als „sex worth wanting“, reiche Intimität
C. Folgerungen
- Der Schwerpunkt liegt auf einem gleichwürdigen erotischen Miteinander.
- Es geht um beidseitiges ganzheitliches Interesse und wechselseitige sensible Erkundung auf „Augenhöhe“.
- Gesehen werden, gehalten sein, die Beziehung bereichernd kommunizieren können, loslassen können.
- Ein solches „Vorgehen“ hin zu sich vertiefender Intimität kann üblicherweise auch Unsicherheitsgefühle auslösen.
- Ziel ist letztlich, gleichzeitig gut bei sich, beim anderen und beim Gemeinsamen sein zu können.
- Hingabe an und Erfahrung von größeren, vitalen individuellen und gemeinsamen Räumen.
–> Präsenz, nicht Performanz
–> Intimität, nicht Funktion
–> Ganzheit, nicht Perfektion

2. Acht wesentliche Bestandteile wunderbarer Sexualität
Die kanadische Sexualtherapeutin und Sexualforscherin Peggy Kleinplatz hat langjährige Paare, die von sich behaupten „wunderbaren Sex“ zu haben, nach ihren „Erfolgsrezepten“ gefragt. Als Ergebnis ihrer Studie nennt sie acht wesentliche Aspekte der Beziehungsgestaltung, die eine erfüllte Sexualität begünstigen. Aus meiner Sicht haben sie alle mit der Weiterentwicklung der Intimitätsfähigkeit als Individuum und Paar zu tun.
- Gänzlich im Moment präsent und verkörpert sein
- Verbundenheit, aufeinander eingestimmt und ausgerichtet sein
- tiefe sexuelle und erotische Innigkeit
- reife Kommunikation und authentisch-integres Mitfühlen
- offen und authentisch sein, sich selbstgültig zeigen können
- Verletzlichkeitskompetenz und Hingabefähigkeit
- Erkundung, Freude, Übernahme zwischenmenschlichen Risikos
- Wachstum und Transzendenz
nach: Kleinplatz, Peggy & Ménard, Dana: Magnificent sex. New York 2020

3. erotische und sexuelle Sprache
Es lassen sich zwei Arten unterscheiden, über unser Liebesleben zu sprechen. Ich stelle sie hier verkürzt in Tabellenform dar. Das „Sprachspiel“ kann personen-, zeit- und situationsabhängig sein. Aufgrund der Gebundenheit an Situationen und Umfelder gilt: Die eine Sprechweise ist nicht per se besser als die andere.

Tabelle aus: Clement, Ulrich: Die Dynamik des Begehrens. Systemische Sexualtherapie in der Praxis. Heidelberg 2016. S.10
Nochmal ein Hinweis für Menschen, die aus Kindheiten mit unsicherer Bindung kommen und sich nach Intimität sehnen: Das erotische „Sprachspiel“ kann für sie ambivalent (zweiseitig) oder gar ein Dilemma sein: Es verspricht u.U. sanfte Innigkeit, setzt aber unklarere kommunikative Grenzen voraus. Dieses Dilemma kann sich dadurch auflösen, dass erotische Sprache grundsätzlich prozesshaft und offen angelegt ist und umfangreiches Wachstum ermöglicht.